Warum gibt es so wenig Wirtschaftsanwältinnen, Bignia Vieli?
Sie ist eine von nur zwei Frauen unter 22 Partnern: Bignia Vieli über die familienunfreundlichen Strukturen traditioneller Wirtschaftskanzleien, ihre Doppelrolle als dreifache Mutter und Anwältin – und ihren Vater.
Grosse Wirtschaftskanzleien sind noch immer fest in Männerhand, es gibt kaum Partnerinnen. Warum eigentlich?
Diese Kanzleien wurden von eher konservativ denkenden Männern aufgebaut, die viel arbeiteten, während ihre Frauen die Familie und das soziale Leben organisierten. Heute sind Frauen genauso gut ausgebildet und auch genauso gut im Beruf. Natürlich wollen viele trotzdem nicht auf eine Familie verzichten und sich da auch engagieren. Doch die bisherigen Strukturen der Wirtschaftskanzleien erschweren diese Absicht oft.
Vergibt sich eine Kanzlei damit nicht auch Chancen?
Sogar sehr grosse. Auch wir haben leider schon einige sehr geeignete Frauen verloren, weil sie als Mütter fixe Arbeitszeiten bevorzugten. Darum müssen wir dringend Strukturen schaffen, die Teilzeitarbeit ermöglichen, auch Teilzeitpartnerschaften. Nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer, die daheim Aufgaben übernehmen wollen.
In welchem Stadium steht dieses Umdenken bei Wenger Vieli?
Wir haben das Problem erkannt und auch gewisse Vorstellungen, in welche Richtung es gehen soll. Entsprechende Anpassungen sind noch für dieses Jahr geplant.
Wie war das bei Ihnen? Wie haben Sie drei Kinder grossziehen und trotzdem Karriere machen können?
Als ich Kinder bekam, war ich bereits Partnerin, also mein eigener Chef. Ich konnte Arbeit delegieren, meine Zeit selber einteilen. Ich habe vor allem Banken, Finanzdienstleister und Privatpersonen beraten, da gab es zwar manchmal auch Notfälle, doch die waren überschaubar.
Und zu Hause hatten Sie Nannys?
Wir hatten eine Hausangestellte. Sie kam viermal die Woche morgens um acht, machte den Haushalt, schaute tagsüber den Kindern und bereitete das Nachtessen vor. Um halb sieben hatte sie Feierabend, dann übernahmen mein Mann und ich.
Ihr Mann packte mit an?
Er hat eine eigene Kanzlei und arbeitete auch damals viel. Aber für die Familie nahm er sich immer Zeit. Auch musste er weniger reisen als ich. Er hat sich auch an den Haushaltsarbeiten beteiligt. Sie können als Frau nicht eine fünfköpfige Familie und einen Anwaltsjob stemmen, ohne dass der Mann mitmacht.
Wer brachte die Kinder ins Bett?
Das war meine Aufgabe; ich mochte das sehr, während mein Mann in dieser Zeit lieber die Küche machte. Ich wollte da sein, wenn die Kinder aufwachen. Und ich wollte da sein, wenn die Kinder ins Bett gehen. Das fand ich immer sehr schöne und wichtige Momente.
Wenn Sie die Dinge ohne Planung einfach auf sich zukommen lassen, kann ein Durcheinander entstehen.“
Bignia Vieli, Partnerin
Drei Kinder und ein Anwaltsjob, das ist auch mit einem Traummann an der Seite eine Herausforderung. Was war Ihr Rezept?
Man muss vorausschauend organisieren. Wenn Sie die Dinge ohne Planung einfach auf sich zukommen lassen, kann ein Durcheinander entstehen. Aber man kann vieles antizipieren, dann läuft der Betrieb daheim relativ ruhig. Als Anwältin übt man das ja auch, man ist strukturiert, hat einen Plan im Kopf – und ist flexibel genug, ihn immer mal wieder über den Haufen zu werfen.
Trotzdem: Ohne Opfer gehen Beruf und Familie nicht zusammen. Für welche haben Sie sich entschieden?
Mir war immer klar: Die Kinder sollen nicht unter meiner beruflichen Tätigkeit leiden. Also nahm ich kaum an Networking-Veranstaltungen teil, ging kaum an Seminare, bewegte mich eher wenig in Anwaltskreisen. Ich wollte nicht am Abend auch noch weg sein. Und ich verzichtete auf Hobbys. Was wir aber machten: Wir reisten viel. Wir hatten das Glück, dass unsere Kinder pflegeleicht waren und kaum quengelten oder Mitreisende nervten.
Welche Familienaufgaben delegierten Sie explizit nicht?
Mit den Kindern zum Arzt gehen, Kindergeburtstage organisieren, alles, was die Schule betraf. Ich wollte mit meinen Kindern verbunden sein und wissen, was abgeht. Lieber las ich in der Nacht noch Akten. Und irgendwann gehen die Kinder zur Schule, da hat man dann auch wieder mehr Zeit.
Ich wollte mit meinen Kindern verbunden sein und wissen, was abgeht.“
Bignia Vieli
Hatten Sie ein Rezept gegen Dauermüdigkeit oder brauchen Sie von Natur aus kaum Schlaf?
Ich brauche eher viel Schlaf, war oft müde und bin es heute noch. Ich glaube, das einzige Rezept, das es gibt, ist Freude. Die Freude an der Familie und die Freude am Beruf. Das gibt einem Antrieb.
Wussten Sie schon immer, dass Sie Anwältin werden wollen?
Nein, gar nicht. Mit 18 hätte ich nie darauf gewettet, dass mein Leben in diesen Bahnen verlaufen würde. Auch Journalismus hatte mich interessiert oder Psychologie. Das Jurastudium war mehr ein Ausprobieren, doch es zog mir sofort den Ärmel rein. Das strukturierte, logische Denken lag mir. Ich liess mir meinen weiteren Weg aber bewusst offen. Auch als ich das erste Kind bekam, dachte ich: Schauen wir mal, wie sich das entwickelt. Laut habe ich das aber niemandem gesagt (lacht).
Mit 32 Jahren stiegen Sie bei Wenger Vieli ein, also bei Ihrem Vater.
Wie war das?
Ich arbeitete damals in einer anderen Wirtschaftskanzlei, Jean-Claude Wenger suchte das Gespräch. Ich fiel aus allen Wolken. Ich wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dereinst bei meinem Vater in der Kanzlei zu arbeiten. Weil ich mir aber nie vorwerfen wollte, etwas nicht probiert zu haben, versuchte ich es.
Wovor hatten Sie Bedenken?
Dass es komisch ist, mit meinem Vater zu arbeiten. Dass ich unter grösserer Beobachtung stehen könnte. Unter dem Verdacht auch, protegiert zu werden. Ich führte deshalb vor allem auch Gespräche mit den anderen Partnern: Schliesslich lag die Zukunft der Kanzlei in ihren Händen; mein Vater stand damals kurz vor der Pension.
Wie war es dann tatsächlich?
Ich war sehr positiv überrascht – auch von meinem Vater. Ich lernte ihn von einer anderen, von einer kollegialen Seite her kennen. Er schenkte mir sein ganzes Vertrauen und war sicher glücklich, dass ich in seine Fussstapfen trat. Ich war aber auch sehr stolz auf ihn!
Inwiefern hat Ihnen Ihr Vater die Freude an der Arbeit vorgelebt?
Mein Vater arbeitete sicher gern und viel – aber er liess sich nicht vom Beruf auffressen. Er war ein interessierter Mensch, hatte Hobbys. Er mochte zum Beispiel die Astronomie, wir hatten ein Teleskop daheim. Als wir noch klein waren, zeigte er uns gern die Sterne. Es war die Zeit der ersten Mondlandung. Stets schwang mit, dass es da draussen noch sehr viel Interessantes zu entdecken gab.
Wie reagierte er, als Sie ihm eröffneten, dass Sie Jura studieren wollen?
Er nahm mich zwei Stunden ins Kreuzverhör, denn er war der Ansicht, dass der Anwaltsberuf zu hart sei für Frauen. Ich war genervt, dass ich mich als Frau rechtfertigen musste, weil ich Jura studieren wollte, und liess mich nicht von der Idee abbringen. Es spricht für meinen Vater, dass er schon bald lachend zugeben konnte, dass er mit seiner Einschätzung falschlag.
Warum dachte er so?
Wahrscheinlich hatte diese Generation von Männern Hemmungen, mit Frauen gleich hart ins Gericht zu gehen wie mit Männern. Diese Männer waren Gentlemen: Dermassen offensichtlich und strategisch eine gegnerische Anwältin zu «vernichten», wie man das mit anderen Männern machte, war für meinen Vater eine schlimme Vorstellung.
Gibt es Dinge, die Anwältinnen tendenziell besser können als Anwälte?
Ich mag diese Männer-Frauen-Klischees nicht und glaube auch nicht, dass das Geschlecht den Unterschied macht, sondern Charakter, Intelligenz und soziale Kompetenz. Aber vielleicht können Frauen – und gerade Mütter – ein bisschen besser zuhören, sich ein bisschen besser zurücknehmen. Auch weil es ihnen in früheren Generationen so beigebracht wurde.
Wo müssen Frauen noch ein bisschen zulegen, damit sich die Dinge auch bei einer Wirtschaftskanzlei ändern?
Frauen müssen lernen, selbstbewusster aufzutreten. Ich sage nicht: lauter auftreten. Und schon gar nicht: so tun als ob. Sondern tief drin an sich zu glauben – und ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Vor allem Schweizer Frauen, wenn ich das so sagen darf. Amerikanerinnen oder Französinnen sind uns da voraus. Die lassen sich nicht beirren, auch wenn das Gegenüber viel zu dominant auftritt. Und vielleicht haben wir Frauen die Tendenz, alles gar perfekt machen zu wollen, da stehen wir uns womöglich selber ein wenig im Weg. Es lebt sich besser, wenn wir uns eingestehen, dass niemand fehlerfrei ist. Nicht einmal wir Frauen (lacht).