Wie war das damals, Jean-Claude Wenger?
Aus ihm hätte auch ein Chirurg werden können. Oder ein Schauspieler: Kanzleigründer Jean-Claude Wenger über seine schwierige Studienzeit, das Geheimnis einer guten Partnerschaft und die Faszination grosser Prozesse.
Ihre Eltern waren Psychiater, Sie wuchsen im ländlichen Thurgau auf. Wie kamen Sie auf die Juristerei?
Als ich klein war, wollte ich Lehrer werden. Ich stellte mir das zwar etwas langweilig vor, aber die vielen Ferien hatten ihren Reiz. In der Mittelschule liebäugelte ich eine Zeit lang mit der Schauspielerei. Nach der Matur dann musste ich direkt ins Militär und dachte, vielleicht habe ich da eine gescheite Idee, was ich studieren könnte. Ich sah, dass fünf Kollegen mit Jura begannen. So falsch konnte das also nicht sein.
Medizin war nie ein Thema?
Doch, ich wäre sehr gern Chirurg geworden. Aber dann war die Idee plötzlich vorbei. Ich mochte es, mit den Händen exakt zu arbeiten. Eine Zeit lang habe ich sogar gestickt. Auch geklöppelt hab ich mal. (Lacht.)
Dann zogen Sie in die grosse Stadt, wie war das?
Ich kam vom Land, wo man alle kannte. Hier war ich fremd, kannte niemanden. Ich wohnte bei einer Tante und war einsam. Ich ging auch nicht unbedingt gern in die Vorlesungen. Aber ich war begeistertes Mitglied der akademischen Theatergruppe. 1948 führten wir in der Eingangshalle der Universität achtmal «Iphigenie» auf. Ich kann heute noch ganze Passagen rezitieren.
In der Retrospektive: Würden Sie wieder Jus studieren?
Ich weiss es nicht. Es dauerte lange, bis ich im Beruf Berufung sah. Nach dem Studium ging ich ans Gericht, das gefiel mir kurzzeitig wegen der Theatralik. Dann ans Obergericht, das war intellektuell etwas spannender. Nach fünf Monaten hatte ich genug. Ich stellte mich bei drei Anwälten vor, hatte aber nicht den besten Eindruck. Dann meldete ich mich auf ein Inserat in der NZZ: Ein Anwalt suchte jemanden für Haftpflicht- und Baurechtsfälle. Das reizte mich. Ich bekam die Stelle. Nach zehn Tagen ging der Anwalt auf eine zweimonatige Reise nach Amerika und überliess mich den Akten. Ich wurde ins eiskalte Wasser geworfen. Nach zwei Wochen wusste ich: Das ist es! Das ist mein Beruf! Ich bedauerte es fast ein wenig, als der Anwalt von seiner Reise zurückkam.
Was war es, das Sie für sich entdeckt hatten in dieser Zeit?
Dass ich gern allein für mich arbeitete. Ich wusste, ich will selbstständig werden. Einige Jahre später war es so weit. Ich mietete ein Büro an der Seegartenstrasse 2 im Seefeld, das ging dann 15 Jahre. Ich wurde mit Leib und Seele Anwalt.
Es war, als ob der andere formulierte, was man selber fühlte.“
Dr. Jean-Claude Wenger, Gründer
Hier kommt Lelio Vieli ins Spiel. Wie hatten Sie sich kennengelernt?
Lelio war ein bisschen jünger als ich, wir kannten uns flüchtig aus dem Studium. Dass er sich bei mir meldete, war ein Glücksfall, eine andere Erklärung gibt es dafür nicht. Er sagte, er wolle mit mir etwas besprechen. Obwohl ich ihn nicht näher kannte, hegte ich schon da die Hoffnung, dass er mit einem Vorschlag für eine Zusammenarbeit kommen würde. Meine Frau war mit der Familie Vieli bekannt und hatte ein sehr positives Urteil. Tatsächlich eröffnete mir Lelio, dass er sich neu orientieren wolle und dabei an mich gedacht habe. Wir verstanden uns vom ersten Gespräch an. Es war, als ob der andere formulierte, was man selber fühlte.
Was für eine Persönlichkeit war Lelio Vieli?
Lelio war eher der Besonnene, ich eher der Treiber. Aber wie wir miteinander umgingen, was wir vom anderen und uns selber erwarteten, da waren wir praktisch identisch. Wir waren wie eine Stimme und wurden sehr gute Freunde. Obwohl er 2009 gestorben ist, bleibt Lelio in der Erinnerung für mich bis heute lebendig.
Gab es manchmal trotzdem Streit?
Nie! Wir waren vielleicht verschiedener Auffassung. Dann gingen wir ins Café Black, tranken einen Kaffee, sagten dem anderen ehrlich, was wir dachten, fragten ihn aber mindestens so ernsthaft nach seiner Meinung. Und fanden immer und vor allem schnell eine gute Lösung. Nach fünf Minuten war das Thema vom Tisch.
Der Wert einer guten Partnerschaft prägt Wenger Vieli bis heute. Doch was macht eine gute Partnerschaft denn eigentlich aus?
Das Wichtigste ist Vertrauen. Und genauso wichtig ist Rücksichtnahme. Eine Partnerschaft ist nicht nur lustig. Man muss auch verzichten können. Wenn einer nur sich selber entwickeln will, ist er kein guter Partner. Ein Partner muss sich auch zurücknehmen können und Freude haben am Erfolg des anderen. Das hatten wir in hohem Mass.
Lelio Vieli und Jean-Claude Wenger:
Die Werte der Gründer gelten bis heute.
Ein guter Partner sein: Kann man das lernen?
Das kann man wohl nur beschränkt lernen. Es gibt Leute, die sich eher eignen. Wenn einer nicht die Einsicht hat, dass er auch etwas geben muss und nicht nur nehmen kann, dann geht das nicht. Dann ist das gefährlich. Noch gefährlicher ist es, wenn sich zwei, drei solche Einzelmasken zusammentun. Auch wir mussten uns von solchen Leuten trennen.
Was haben Sie heute für ein Gefühl, wenn Sie die Firma anschauen mit 125 Mitarbeitenden?
Es ist eine andere Firma. Sie hat die Flexibilität, dass man über Nacht ein hochkompetentes Team zusammenstellen kann. Aber du kannst eine solche grosse Gemeinschaft nicht führen oder für die Mitarbeitenden in der Art verantwortlich sein, wie wir das konnten. Lelio und ich wussten um die Freuden und Sorgen der Mitarbeitenden. Das war auch der Grund, weshalb wir ursprünglich klein bleiben wollten. Es gibt einen Grad an Nähe, der mit einer gewissen Grösse der Firma unmöglich wird.
Mit Bignia Vieli und Chrigel Wenger zogen Sie eine zweite Generation nach. Was bedeutete das Lelio Vieli und Ihnen?
Es gibt viele Büros, die das bewusst nicht machen. Weil sie das Gefühl haben, dass Nachkommen damit nicht geholfen ist oder dass sie unter besonderem Druck stehen. Wir sahen das nicht so. Lelio hatte zwar früher stets lauthals verkündet, dass sich Frauen nicht für den Anwaltsberuf eignen, aber das war einer seiner wenigen grossen Irrtümer, wie er selber schnell feststellte, als Bignia kam. Ich habe ihm immer gesagt: Du wirst sehen, sie wird noch um Längen an dir vorbeischiessen. Und als Chrigel kam, hat mich das sehr gefreut. Seine Ausbildung hatte er ja an einem anderen Ort gemacht. Der Partner, der dort für ihn zuständig war, hielt mir noch lange vor, dass ich ihn ihm abgeworben hatte.
Als Lelio Vieli und Sie begannen: Was haben Sie sich vorgenommen?
Wir beschlossen, dass wir keine Vermögensverwaltung machen. Das war sicher auch ein Grund für unseren Erfolg: Wir haben zwar für Banken verhandelt, liessen uns aber nie vereinnahmen. Wir waren immer stolz auf unsere Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit.
Für uns beide war immer klar:
Wir lassen uns von niemandem kaufen.“
Dr. Jean-Claude Wenger
Gab es Versuchungen?
Einmal, nach dem «Fall Chiasso», fragte die Kreditanstalt Lelio, ob er Chef des Rechtsdiensts werden wolle und später Geschäftsleitungsmitglied. Lelios Vater war Generaldirektor bei der Kreditanstalt gewesen, darum war es für ihn eine Versuchung. Aber er liebte die Unabhängigkeit genauso sehr wie ich und schlug das Angebot aus. Für uns beide war immer klar: Wir lassen uns von niemandem kaufen. Bei mir war die grösste Versuchung, als ich Brigadier hätte werden sollen. Auch ich sagte ab – und bereute es nie.
Gab es in Ihrer Karriere auch Rückschläge?
Lelio und ich prozessierten bis zum Schluss – und waren stolz darauf. Wir sagten immer: Einer, der nicht prozessiert, ist nur ein halber Anwalt. Doch wenn man Prozesse führt, kann man auch verlieren, das ist etwas sehr Unangenehmes. Vor allem, wenn man denkt, man hätte gewinnen müssen. Und je älter man wird, desto mehr denkt man, dass man gewinnt. Eine Niederlage muss man aushalten können, das ist nicht einfach. Aber das Prozessieren ist oft ein unerhört spannender Prozess, der sich in der Zeit entwickelt und einen den Beruf des Anwalts in seiner ganzen Vielfarbigkeit erleben lässt.
Was war Ihr wichtigster Fall?
(Lacht.) Der längste dauerte 27 Jahre! Obwohl ich Komplikationen ahnte, machte ich den Fehler und beantragte, die Zeugeneinvernahmen in Athen durchzuführen. Es waren Griechen, Belgier und Franzosen involviert. Die Spesen schossen ins Unermessliche. Das in der Öffentlichkeit bekannteste Mandat aber war wohl Kaiseraugst. Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung lehnte 1975 die Atomenergie ab – aus Bedenken bezüglich der Endlagerung oder eines Unfalls. Die Planungszeit für das Kernkraftwerk hatte bereits über 20 Jahre betragen, die Kosten beliefen sich auf weit über eine Milliarde Franken. Der Bund war genauso involviert wie ein Bankenkonsortium und die federführende Firma Motor-Columbus. Ausserdem hatten Aktivisten das Areal vorübergehend besetzt. Der Bundesrat erteilte mir den Auftrag, zwischen den Parteien einen Kompromiss zu verhandeln. Ich war unschlüssig und fragte Lelio. Er sagte: Wenn dein Land ruft, dann musst du das tun. Nimm dir zwei Monate, ich schau inzwischen hier zum Rechten.
Warum gelang es Ihnen, die Rivalen zu einen?
Es war ihre letzte Chance. Sie hätten alles verlieren können oder die Hälfte gewinnen. Ich wählte eine ziemlich ungewöhnliche Strategie, die hier zu erklären den Rahmen sprengen würde, und gab ihnen eine Woche Bedenkzeit. Widerwillig akzeptierten sie, riefen aber nicht mich an, sondern Bundesrat Otto Stich. Das war mir egal. Ich war froh, dass es zu einem guten Schluss kam, obwohl niemand mehr daran geglaubt hatte.
Wie viel wusste Ihre Frau von solchen Mandaten?
Kaum etwas. Ich habe den Vorteil, dass meine Frau ebenfalls Juristin ist. Als Bezirksrichterin war auch sie Geheimnisträgerin. Wir nahmen die Diskretion sehr ernst. Andere Anwälte redeten bedrückend locker über ihre Fälle, wir haben das nie gemacht. Ich sah aber auch Ehen, die in die Brüche gingen, weil die Ehefrau ausgeschlossen wurde aus der beruflichen Tätigkeit des Mannes.
Gerade wenn man eine Partnerin an der Seite hat, welche die Materie versteht, ist es wohl nicht immer ganz einfach, nichts zu sagen. Was machten Sie mit Ihren Zweifeln, Ihren Fragen?
Ich machte sicher das meiste mit mir selber aus. Und ich hatte Lelio, wir konnten und durften über alles reden.
Jetzt feiert Ihr Lebenswerk das 50-jährige Bestehen. Gibt es etwas, was Sie den Angestellten und insbesondere den Partnern mit auf den Weg geben wollen?
Haltet zusammen, pflegt nach aussen die Einheit, bleibt ehrlich – auch euch selbst gegenüber. Und habt möglichst auch Spass an eurer Aufgabe!