Wie wichtig ist die Praxis für einen Professor?

Sie sind Konsulenten von Wenger Vieli, Professoren an der Universität Luzern und gute Freunde: Daniel Girsberger und Lorenz Droese über ihren Bezug zur Kanzlei, die studierende Generation und den Wert der Akademie.

Daniel Girsberger (rechts) und Lorenz Droese (links):
«Forschung und Lehre sind ja etwas sehr Gegensätzliches.»

Sie haben sich nach Ihre Karriere in der Kanzlei für die Akademie entschieden. Was macht für Sie den Reiz von Forschung und Lehre aus?
Daniel Girsberger: Man darf in Ruhe etwas durchdenken, ohne auf den Ticker schauen zu müssen. Man hat weniger Druck – auch wenn der Druck grösser ist, als man das vorher dachte. Und natürlich: Es ist ein Privileg, im Rahmen einer solchen universitären Institution Wissen zu vermitteln – an eine junge Generation, mit der man es sonst als Wirtschaftsanwalt weniger zu tun bekommt.

Lorenz Droese: Forschung und Lehre sind ja etwas sehr Gegensätzliches. Forschung ist das Introvertierte, Grüblerische. Die Lehre ist das Extrovertierte, das einem gewissen Geltungsdrang entgegenkommt, den man gelegentlich in sich spürt. Sie erlaubt auch, ein Thema vor jemandem auszubreiten, der es noch nie gehört hat – was gerade im abgebrühten Juristenmilieu ein Privileg ist. Und im Vergleich zur Kanzleiarbeit muss man die Dinge nicht fallen lassen, wenn der Zweck erreicht ist. In der Akademie fängt die Arbeit da erst richtig an, wo man als Anwalt fertig ist. Das empfinde ich als eher beglückend.


Kann man das auch als Kritik an der Anwaltstätigkeit verstehen?
Droese: Nein, so war das nicht gemeint. Die Akademie kommt meiner eigenen Konstitution sicher eher entgegen als eine reine Anwaltstätigkeit. Aber der Anwalt bringt die Wissenschaft durchaus weiter. Es ist eine Eigenart unseres Systems, dass die unzähligen Entscheide aus der Praxis das Rechtswesen überhaupt erst generiert haben, so, wie unzählige Körnchen schliesslich zu einem Gebirge sedimentieren, das die Rechtswissenschaft dann kartografieren will.

Girsberger: Ein bisschen Kritik darf schon durchschimmern. Nicht Kritik am Anwaltsberuf, sondern Kritik an unserem Wirtschaftssystem. Noch vor wenigen Jahrzehnten war der Anwaltsberuf ein freier Beruf. Im Rahmen ihrer Autorität durften sich Anwälte für ihre Klienten die Zeit nehmen, die sie brauchten, um sie nach allen Regeln der Lehre beraten zu können. Heute wird alles wirtschaftlich optimiert. Der Anwalt ist gehalten, mit einem minimalen Aufwand ein maximales Ergebnis zu erzielen. Darunter leiden Feinheiten, manchmal auch Menschliches. Diese ökonomische Optimierung schleicht sich langsam auch in der Akademie ein. Das freie Denken wird reglementiert.


Sie sehen die Generationen heranwachsen, die Anwältinnen und Anwälte von morgen. Was gewinnen Sie vom Austausch mit den Studierenden?
Droese: Unabhängig davon, ob einem eine Generation mit ihren Werten gerade einleuchtet, hat es immer etwas Belebendes, eine Entwicklung mitzubekommen. Die Generation, die ich gerade unterrichte, liegt zwischen den Jüngsten aus meinem Freundeskreis und meinen Kindern. Diesen toten Winkel auszuleuchten, finde ich bereichernd. Ich unterrichte erst seit gut zehn Jahren und kann innerhalb dieser Zeit wenig Veränderungen feststellen. Aber ich beobachte eine verblüffende Weltläufigkeit heutiger Studierender.

Girsberger: Anders als manche Kolleginnen und Kollegen würde ich nicht sagen, dass die Studierenden schlechter wurden. Aber Schwergewicht und Interesse und auch die Haltung der Studierenden verlagern sich aufgrund der Globalisierung. Auf der anderen Seite – denken wir an die Pandemie – sind die Studierenden auch sehr viel anpassungsfähiger geworden. Wir haben vollständig umgestellt auf Online-Unterricht, auch bei Prüfungen. Die Studierenden haben das in radikaler Art mitgemacht. Mein Fazit: Die Studierenden von heute haben mehr Verständnis für das Faktum, dass die einzige Konstante unseres Lebens die Veränderung ist. Davon profitieren auch wir Dozenten, weil wir diese Veränderungen unwillkürlich mitmachen.


Dank Ihres Wirkens geniessen Sie Einblick in die grossen und wichtigen Kanzleien. Inwiefern hebt sich Wenger Vieli ab? Warum ist Wenger Vieli besonders?
Girsberger: Seit ich vor 38 Jahren als Substitut das erste Mal bei Wenger Vieli arbeitete, strahlt diese Kanzlei eine akademiefreundliche Haltung aus. Damals pflegte sie beinahe eine eigene akademische Ausrichtung. Die Senior Partners Wenger und Vieli hatten neben der rechtlichen Ader auch eine starke philosophische und psychologische, welche die akademische Grundtätigkeit, nämlich das Denken, beflügelte. Wenn man akademisch tätig sein wollte, fand man Unterstützung. Auch ich durfte meine Habilitationsschrift teilweise während der Arbeitszeit schreiben. Man sagte mir sogar: «Wir wollen, dass du das fertig machst, und wir geben dir auch mehr Zeit, als du dachtest, dass du dafür brauchen wirst.» Dafür bin ich heute noch sehr dankbar, möglicherweise hätte ich sonst abgebrochen.

Droese: Ich durfte in einer späteren Phase von dieser Stimmung profitieren. Die beiden Senior Partners habe ich zwar nur selten erlebt. Aber ich wurde geprägt durch Menschen, die von ihnen geprägt worden waren. Insbesondere von Daniel Girsberger, der mir die akademischen Türen als offen nachgewiesen hat. Aber eben auch von Leuten, die vom Wesen her der akademischen Richtung nicht unbedingt zugeneigt waren, meine Entscheidung aber trotzdem verstanden und, wenn vielleicht auch widerwillig, mitgetragen und mich sogar ermutigt haben. Das ist nun wirklich nicht selbstverständlich, und dafür bin ich dankbar.


Die philosophische Grundhaltung der Senior Partners muss Ihnen, Herr Droese, besonders gefallen haben. Sie hatten einst ein Studium in Religionswissen-schaften begonnen. Wie kam das?
Droese: Ich war fasziniert von Hans Jonas’ Buch «Das Prinzip Verantwortung». Jonas hatte Theologie- und Religionswissenschaften studiert. Es war eine enorme Enttäuschung für mich, als ich realisierte, dass mich dieses Studium nicht packte. Ich wandte mich der Juristerei zu, weil ich zwar etwas Sprachlastiges machen wollte, aber frustriert war von Phil. 1. Weil ich handwerklich unbegabt bin und naturwissenschaftlich auch, hat sich die Juristerei als eine Art Handwerk mit Sprache angeboten. Paradoxerweise konnte ich gewisse offene Rechnungen aus meinem durchaus auch als Niederlage empfundenen Abstecher in Phil. 1 an einem Ort begleichen, den ich nie suchte, aber erstaunlicherweise fand.

 

Ich stamme aus einer Juristenfamilie.
Selbst meine beiden Grossmütter waren Juristinnen.“

Daniel Girsberger

Und Sie, Herr Girsberger, wie kamen Sie zur Juristerei?
Girsberger: Ich stamme aus einer Juristenfamilie, selbst meine beiden Grossmütter waren Juristinnen. Für mich war es nur sehr beschränkt eine Frage, was ich werden wollte. Doch die Frage, ob es der richtige Weg ist, wurde immer grösser, je länger ich ihn beschritt. Es war also umgekehrt als bei Lorenz. Erst durch die Kombination mit der Akademie fand ich Erfüllung. Das ist übrigens auch sonst das Tolle am Anwaltsberuf: Man ist nicht festgelegt auf eine Schiene. Es gibt so viele Variationen, die man sich zum Hauptthema machen kann. So wurde ich von einem Prozessanwalt zu einem Schiedsrichter zu einem Mediator, dafür bin ich dankbar.

Wie wichtig sind parallele Erfahrungen in der Praxis für die Arbeit eines Professors?
Girsberger: Sie ist keine unbedingte Voraussetzung, aber unglaublich bereichernd. Gerade gewisse Wirtschaftsanwaltsfächer gewinnen bei der Vermittlung durchaus an Kontur und Farbe, wenn man einen Fuss in der Praxis hat: weil es tatsächlich eine praxisnahe Wissenschaft ist, die wir betreiben.

Droese: Auch ich empfinde die Praxis nicht als Notwendigkeit schlechthin. Für mich allerdings ist sie es. Wir forschen ja nicht an einem Naturphänomen, das es tatsächlich gibt. Wir forschen an einem Phänomen, das entsteht durch Praxis. Wenn man sich in eine reine Gelehrtenexistenz zurückzieht, entfernt man sich zu einem gewissen Grad auch von dem, was man untersucht.  Es gibt aber durchaus eine akademische Tradition, die genau aus dieser entrückten Perspektive viel gemacht hat. Nur: Das wäre nichts für mich.

 

Wir forschen an einem Phänomen, das entsteht durch Praxis.“

Lorenz Droese

Daniel Girsberger hat sich auf Schiedsgerichtbarkeit spezialisiert. Lorenz Droese fand sein Spezialgebiet im Zivilprozess. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es Sie fachlich genau dahin trieb?
Girsberger: Bei mir haben sich die Bahnen wohl nur deshalb ins Wirtschaftsrecht entwickelt, weil ich nach dem Studium in einer Wirtschaftskanzlei gearbeitet hatte. Hätte ich in einer Familienrechtspraxis angefangen mit Scheidungen und Erbrecht, hätte es mich wohl in diese Richtung getrieben. Und dann sind es meistens Einzelpersonen, die einen beeinflussen, oder Themen, die man – wie in meinem Fall – vom akademischen Mentor vorgeschlagen bekommt. Auch die Schiedsgerichtbarkeit wurde eher per Zufall zu meiner Spezialisierung. Ich musste für jemanden einspringen, der einen Vortrag darüber hätte halten sollen. Mein Doktorvater erachtete es als Chance, dass ich mich in einem interessanten Bereich relativ schnell profilieren kann.

Droese: Ich schöpfe stark aus dem, was ich erlebe. Mehr oder weniger zufällig landete ich auf der Staatsanwaltschaft. Das Know-how von da führte dazu, dass ich bei Wenger Vieli mit strafrechtlich gefärbten Themen zu tun hatte. Ein besonderer Fall verband Strafrecht und Zivilprozessrecht, daraus entstand meine Dissertation. Auch prägte mich bei Wenger Vieli die Zusammenarbeit mit Marco Cereghetti. All das führte eher zufällig zur Spezia­lisierung im Zivilprozessrecht. Man kann sagen: Mit dem Studium der Religionswissen-schaften hatte ich einst einen Masterplan, und der ging schief. Danach hatte ich keinen Plan mehr, und das ging gut (lacht).

Was bedeutet Ihnen die Position als Konsulenten bei Wenger Vieli? Oder frech gefragt: Was bringt sie Ihnen?
Girsberger: Ich war 17 Jahre lang Partner bei Wenger Vieli, da fühlt man sich einem Unternehmen sehr verbunden. Dann wechselte ich an die Uni Luzern, wo ich mithalf, die Rechtswissenschaftliche Fakultät aufzubauen. Wenn man dermassen an einem Karren ziehen muss, liegt eine Partnerschaft kaum mehr drin. Als Konsulent hat man weniger Pflichten, es ist eine gewisse Entlastung. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich nicht mehr gehört werde.

Droese: Ich war immer angestellter Anwalt bei Wenger Vieli. Die unternehmerische Perspektive, die sich durch eine Professur in eine zurückhaltendere Rolle wandelt, habe ich selber nie erlebt. Für mich sind es zwei Dinge, die mir die Nähe zu Wenger Vieli bringen: der bereits besprochene Praxisbezug – ich kann mit Leuten, mit denen mich ein Vertrauen verbindet, über Fachliches und Technisches und eben auch über Zweifelsfragen reden, über Probleme, deren Lösung nicht evident ist. Das ist etwas, was mich enorm anregt und mir auch die praktischen Probleme vor Augen führt, die ich im Elfenbeinturm nicht oder nur aus einer entrückten Perspektive sehe. Und dann ist da noch der persönliche Teil: Ich war sehr gern bei Wenger Vieli. Der Abschied fiel mir schwer, auch wenn er einen biografischen Glücksfall bedeutete. Dass ich als Konsulent weiter die Nähe geniessen darf, hat mir diesen Abschied sehr erleichtert.